Fast jeder dürfte sich daran erinnern, im Kunstunterricht die Bekanntschaft mit Fluchtpunkten gemacht zu haben. In der Regel wurde dabei mit einem Fluchtpunkt gearbeitet, der sich in der Mitte des Bildes befand, oder zwei Fluchtpunkte wurden an den rechten und linken Bildrand gesetzt, um Objekte aus einer schrägen Perspektive darstellen zu können. Die Fluchtpunktpositionierung erfolgte also recht willkürlich, und kaum jemand – und wohl auch kaum ein Kunstlehrer – hat sich Gedanken darüber gemacht, wie es mathematisch eigentlich richtig wäre. Dabei lässt sich die richtige Position der Fluchtpunkte, wie sie für eine perfekte Perspektive erforderlich ist, ziemlich einfach berechnen. Einfache Kenntnisse der Trigonometrie (an die man sich vermutlich ebenfalls noch erinnert) reichen dafür aus. Aus gegebenem Anlass – mein geplantes Aquarellbild „Turmbläser“ wird nämlich eine regelrechte Fluchtpunktzeichnung – möchte ich hier kurz erläutern, wie das geht.
Die trigonometrische Berechnung von Fluchtpunkten beruht auf folgendem Prinzip: Man stelle sich vor, ein Gegenstand wie der, den man hinter der Bildebene darstellen will – etwa ein um mehrere Achsen gedrehter Quader –, befinde sich auch vor der Bildebene, und zwar mit seiner vordersten Ecke genau auf dem Auge des Betrachters. (Man unterdrücke in Gedanken den Schmerz.) Drei Kanten des Quaders zeigen nun in verschiedenen Richtungen vom Auge weg zur Bildebene. Dort, wo sie in ihrer Verlängerung auf die Bildebene treffen1 – und sei es auch weit außerhalb des Bildrandes2 –, befinden sich die Fluchtpunkte für die Kanten.
Eines wird dabei klar: Richtig gesetzte Fluchtpunkte kann es immer nur für genau eine Augenposition im Verhältnis zur Bildfläche geben, d. h. für einen bestimmten Augenabstand vor einem bestimmten Punkt im Bilde. Das soll die folgende Überlegung verdeutlichen: Wir stellen uns vor, wir betrachteten eine Szenerie, wie sie auf Fluchtpunktzeichnungen gerne dargestellt wird – z. B. städtische Hochhausarchitektur –, und zwar durch eine Glasscheibe hindurch, die wir mit ausgestreckten Armen vor uns halten. Weil es sich dabei um eine technisch ganz tolle Glasscheibe handelt, können wir an ihrem Rand auf einen Knopf drücken, wodurch das betrachtete Bild ‚eingefroren‘ und auf der Scheibe festgehalten wird. Anstelle der echten Szenerie sehen wir also nur noch deren Abbild auf der Scheibe. Die perfekte Illusion bleibt uns nun so lange erhalten, wie wir die Scheibe oder uns selbst nicht bewegen. Bewegen wir die Scheibe zu uns hin, von uns weg oder neigen wir sie, so wird das Bild mehr oder minder stark verzerrt.3 Die perfekte Perspektive gibt es eben nur für eine einzige Augenposition.
Um die Position der Fluchtpunkte für ein geplantes Bild zu berechnen, überlegen wir also zuerst, an welcher Position im Verhältnis zum Bilde sich das Auge des Betrachters später wohl typischerweise befinden wird. In der Regel wird dies mitten über der Horizontlinie des Bildes sein.4 Die Entfernung vom Auge zum Bilde schätzen wir für den konzentrierten Betrachter ein.
Versuchen wir nun, eine einfache, eingeschossige Hütte mit Satteldach abzubilden. Wir nennen hierzu die Augenposition des Betrachters A und den Abstand seines Auges zum Bild d. Jenen Punkt des Bildes, vor dem das Auge sich befindet – dort also, wo das Lot vom Auge aufs Bild fällt –, nennen wir L.
Jetzt denken wir uns die Hütte als Miniatur vor der Bildebene befindlich und setzen dabei das vordere Ende der Traufe (also jener Kante, an der die Dachrinne hängt) aufs Auge des Betrachters. Die senkrechten Kanten der Hütte – die ‚Hausecken‘ sozusagen – verlaufen ja parallel zur Bildebene5 und benötigen daher keine Fluchtpunkte6. Die Traufe aber fluchtet seitwärts dem Horizonte zu, und wir fragen uns, wo ihre Verlängerung wohl auf die Bildebene treffen mag. Dazu bestimmen wir zunächst, wie groß eigentlich der Winkel zwischen der Traufe und dem erwähnten Lot zum Bild sein soll, und nennen den Winkel α. Der Tangens von α multipliziert mit d ergibt auf der Bildebene den Abstand von L zum gesuchten Fluchtpunkt F1. Dieser Fluchtpunkt gilt auch für alle weiteren Kanten der Hütte, die parallel zur Traufe verlaufen, z. B. den First sowie je zwei Seiten des Bodens und der Decke. Die anderen Seiten von Boden und Decke fluchten dagegen einem anderen Fluchtpunkt F2 zu, welcher ebenfalls auf der Horizontlinie liegt, jedoch auf der anderen Seite von L. Seine Berechnung erfolgt analog; der hier maßgebliche Winkel β ist natürlich der Rest, der von α noch zu vollen 90° verbleibt.
Schwieriger sind die schrägen Dachkanten auf den beiden Giebelseiten zu berechnen. Dazu bedenken wir Folgendes: Wenn wir die vordere Hauskante unserer imaginären Miniatur-Hütte aufs Auge des Betrachters setzen, fluchtet ja die gesamte Wandfläche der Giebelseite ebenfalls zur Bildebene hin und schneidet dieselbe in einer Geraden, die vertikal durch den eben berechneten Fluchtpunkt F2 verläuft. Alle Geraden, die flach auf dieser Hauswand liegen, streben also einem Fluchtpunkt zu, der irgendwo auf jener Schnittgeraden liegt. Das gilt folglich auch für die Dachkanten des Giebels. Die Berechnung ihrer Fluchtpunkte erfolgt wieder entsprechend der Berechnung von eben. Dabei tritt an die Stelle der Horizontlinie jene Schnittgerade, und an die Stelle des Lotpunktes L tritt F2. An die Stelle von d tritt der Abstand zwischen A und F2, den wir b nennen. Dieser Abstand ergibt sich aus d, geteilt durch den Cosinus von β. Nun legen wir fest, welche Dachschräge die Hütte haben soll, und nennen den Winkel zwischen Dachboden und Dachfläche γ. Der Abstand der beiden gesuchten Fluchtpunkte vom Punkt F2 ergibt sich nun aus b, multipliziert mit dem Tangens von γ. Diese Fluchtpunkte – F3 und F4 – liegen also auf der besagten Schnittgeraden im gerade berechneten Abstand oberhalb und unterhalb von F2.
Eine weitere, sehr anschauliche Beschreibung des Zeichnens mit Fluchtpunkten von Alexander Vögtli befindet sich übrigens hier. Beachten Sie aber, dass der dort verfolgte Ansatz ein etwas anderer ist: Zunächst wird dort ein flach liegendes, zum Lotpunkt hin fluchtendes Quadrat dargestellt und dabei dessen Hinterkante nach Augenmaß eingezeichnet. Sodann werden die Diagonalen des Quadrats bis zur Horizontlinie verlängert, um die beiden Fluchtpunkte für die Winkel α und β zu bestimmen, welche beide 45° betragen. Der Abstand jedes dieser Fluchtpunkte zum Lotpunkt entspricht nun – weil ja der Tangens von 45° gleich 1 ist – zugleich dem Augenabstand d. Dieser ergibt sich also erst im Nachhinein, während er hier schon im Voraus festgelegt wurde.
1 Stehen dabei einige der Quaderkanten (d. h. vier oder acht) parallel zur Bildfläche, so treffen sie diese freilich erst in der Unendlichkeit – also nirgends. Man braucht dann für diese Kanten eben keine Fluchtpunkte.
2 Programme wie z. B. Corel Draw erlauben es, Objekte auch weit außerhalb des Bildes zu platzieren.
3 Nicht, dass dies dem Auge besonders viel ausmachte – insbesondere kleinformatige Fotos betrachtet man ja ebenfalls von allen möglichen Positionen aus, die gewiss nicht mit jener übereinstimmen, welche jeweils zur Perspektive passt. Aber die perspektivische Illusion ist dann eben nicht mehr perfekt.
4 Zwingend ist dies jedoch nicht, z. B. bei Bildern, die einen Blick nach oben oder unten darstellen.
5 Es sei denn, wir wollten einen Blick nach oben oder unten darstellen und schwenkten dabei die Bildebene mit, so dass sie senkrecht zu unserer Blickrichtung bliebe.
6 S. oben Fn. 1.